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DEUTSCH CATALÀ ESPAÑOL FRANÇAIS
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„ Größenwahn ist nicht,
daß man sich für mehr hält, als man ist,
sondern für das, was man ist.“
Karl Kraus
„Vor Jahrtausenden sprach ein weiser Rabbi vor dem seltsamen Klang, der zu ertönen beginnt, wenn zerstörerische Hände einen Baum fällen, ehe seine Zeit gekommen ist. Diese wortlose Klage geht um die ganze Welt in endlosem Kreislauf; sie verstummt nimmermehr.“ So berichtet Manès Sperber in seinem Nachruf auf Isaak Babel. (150)Heute scheint man die Klagen der vor ihrer natürlichen Zeit zerstören Bäume sehr viel deutlicher zu hören, als das langsame, stille Dahindämmern von Sprachen. Nehmen wir –des Vergleiches wegen– ruhig einmal an, dass es auch für Sprachen eine Zeit des Wachsens und eine des Vergehens gibt; daß Sprachwandel und Sprachwechsel etwas Natürliches, letztlich Unaufhaltsames ist. Wer kann aber daran zweifeln, daß
es auch für Sprachen günstige und weniger günstige, förderliche und bedrohliche Umweltbedingungen gibt? Was ist eigentlich vor einem Menschen zu halten, der sich mit dem besten Teil seiner Kräfte dafür einsetzt, daß einer seltenen Heuschreckenart auch in seiner nächsten Umgebung ein Lebensraum erhalten bleibt, während er andererseits mit der größten Selbstsicherheit dafür plädiert, daß alle Menschen nur englisch sprechen sollten, damit die ganze Welt sich auf Anhieb verstehe? Und doch ist dieser Irrationalismus verbreitet genug. Verluste spüren die Menschen sehr parteiisch. Es kann einer der fürsorglichste Naturfreund und erbittertste Feind jeder landwirtschaftlichen Monokultur sein, zugleich jedoch völlig empfindungslos für Sprachvielfalt und gedankliche Nuancen bleiben und sich wie ein ungestümer Förderer der geistigen Monotonisierung gebärden.
Das Wort von der „Monotonisierung der Welt“ geht auf Stefan Zweig zurück. Er hat dagegen angeschrieben zu einer Zeit, als er glaubte, Paris amerikanisiere und Wien „verbudapeste“. Der „Niedersturz in die Gleichförmigkeit der äußeren Lebensformen“ (7) kann damals nicht auffälliger als heute gewesen sein. Zweig hielt den gesteigerten Uniformierungstrieb noch für eine „Verkümmerung der Nerven zugunsten der Muskeln“. Heute ist längst auch der Muskelschwund diagnostizierbar. Wir sind dabei, im Geistigen einander so zu ähneln wie Skelette. Doch das Klappern der rudimentären geistigen Rüstung bringt nicht neue politische Parteien und gesellschaftliche Großbewegungen hervor. Mancher, der für den sterbenden Wald auf die Strasse geht, bleibt wegen der ihn umgebenden geistigen Dürre guten Gewissens zuhause.
Es ist freilich nicht genug, bloß anzuklagen und zu bedauern. Walter Benjamin hat einmal geschrieben, daß “ein Wissen, das keinerlei Anweisung auf seine Verbreitungsmöglichkeiten enthält, wenig hilft; daß es in Wahrheit überhaupt kein Wissen ist“ (III, 319)Wer Anspruch darauf erhebt, eine bestimmte Existenzform vordem Untergang zu bewahren, muss mehr und Besseres zu sagen haben, als daß er überleben will. Es liegt etwas Präpotentes, geradezu Gewalttätiges im Trotz zu überleben. Elias Canetti hat diesen „Furor“ des Überlebens in „Masse und Macht“ geschildert: „Alle Absichten des Menschen auf Unsterblichkeit enthalten etwas von der Sucht zu überleben. Man will nicht nur immer da sein, man will da sein, wenn andere nicht mehr sind. Jeder will der Älteste werden und es wissen, und wenn er selbst nicht mehr da ist, soll man es von seinem Namen wissen.“ (249) Es wäre ein tollkühnes Unterfangen, wollte man dieses unbescheidene Da-sein wollen noch ausweiten durch den Anspruch, auf eine bestimmte Art da zu sein; auf ein: “So will ich sein und nicht anders!“ Dennoch geschehen die größten geistigen Dammbrüche dadurch, daß die Menschen darauf verzichten, „so und nicht anders“ sein zu wollen. Man will eben um jeden Preis überleben. Dabei käme es Vielleicht eher darauf an, nicht unter einem bestimmten Preis zu leben!
Ein besserer Ansatz als der Beweis, daß beinah jeder Mensch sich durch einen Überlebenshunger auszeichnet, müsste –zur Verbreitung jener nützlichen Art des Wissens– wohl eine „Verlustrechnung“ sein. An dieser sollte man feststellen können, wie gravierend es eigentlich ist, wenn die einem einzelnen Menschen oder einer Menschgruppe vertraute Welt ihre Eigenheiten einbüßt. Doch auch dies ist leichter gefordert als getan. Wie soll man solche Verluste ermessen und gewichten? Was wiegt die verlorene Fähigkeit, eine arme und kleine Welt adäquat bezeichnen zu können, im Verhältnis zum Gewinn, eine reiche und große leicht benützen zu können? Was müßte da für ein Eichmeister einschreiten, damit das Gewicht zugunsten des weniger Nützlichen und Entbehrlichen ausfällt? Liegen die Gründe nicht in der dem Menschen gegebenen Art des Hörens, daß er die Klage des sterbenden Baumes vernimmt, während sein Ohr das leise Verstummen von Namen und Worten überhaupt nicht mehr hört?